Dienstag, 8. September 2015

"Quanto risotto!" - Giuseppe Verdi's Originalrezept und das gekaufte Publikum

Risotto nach dem Rezept von Giuseppe Verdi
Risotto steht, natürlich, auf der ganzen Welt für ein Mailänder Reisgericht. Heute so gut wie unbekannt ist, dass im 19. Jahrhundert ‚Risotto’ in einer völlig anderen Bedeutung auch ins umgangssprachliche Vokabular des Mailänder Musiklebens Eingang gefunden hat. Der Korrespondent der Allgemeinen Musikalischen Zeitung, erschienen im Verlag Breitkopf & Härtel, berichtet in der Ausgabe vom 20. November 1822 über die Opernsaison in Mailand:

„Rossini’s Matilde Shabran war unsere erste diessjährige Herbstoper, und fiel ganz durch, weil wir diese und ähnliche Musik schon aus andern Opern desselben Componisten kennen, und daher auch mit den besten Sängern kein besserer Erfolg zu erwarten war. Bald nachher ging die neue Opera semiseria: Adele ed Emerico, von Mercadante, in die Scene (...). Der Componist wurde am ersten Abend dreymal von seinen zahlreichen Freunden und von den Risottisten hervorgerufen. (...) In den folgenden zwey Abenden wurde ihm diese Ehre bloss einmal zu Theil, und der ganzen Oper erging es nachher wie der vorhergehenden – das Haus war immer leer.“

Wer oder was sind denn „Risottisten“, fragt man sich. Der Korrespondent erklärt es seinem deutschen Publikum in einer Fussnote:
„Der hier im Land sogenannte Risotto ist eine aus Reis zur dichten Consistenz verschiedenartig zubereitete Leibspeise der Mailänder. Will man also den Beyfall im Theater erkaufen, so bezahlt man gewissen Leuten nebst dem freyen Eingangsbillete auch einen Risotto, welches so viel sagen will, als ein gutes Glas Wein. Erhält nun der Componist, Sänger u.s.w. vielen, aber unverdienten Beyfall, so sagen gewöhnlich die hieran keinen Antheil nehmenden Zuhörer: quanto risotto! oder zeigen dieses mit besondern, den Italienern ganz eigenen Geberden an.
Ausschnitt aus der Allgemeinen Musikalischen Zeitung vom 20. November 1822  


Dass der Begriff ‚Risotto’ sich in Mailand in dieser Bedeutung über längere Zeit hielt, belegt die Gazzetta Musicale di Milano vom 30. Oktober 1870 im Beitrag des Korrespondenten aus Florenz, der über eine Aufführung der Oper Camille von Ferdinand Paër (1771-1839) berichtet: „Eine Nummer wurde wiederholt, dreien oder vieren aufrichtig applaudiert, fünf oder sechs vom Risotto gehalten (wie ihr in Mailand sagt); die restlichen gingen getrieben durch“ („Un pezzo fu replicato, tre o quattro applauditi sinceramente, cinque o sei sostenuti dal risotto (come dite voi a Milano); gli altri passarono fra l'uscio e il muro“).

Wir wissen nicht, ob Giuseppe Verdi, dessen früheste Opern in Mailand uraufgeführt wurden, diese Bedeutung von Risotto kannte – vermutlich schon. Zweifelsohne war der Risotto aber als Reisgericht für Verdi unverzichtbar:
Bekanntermassen wusste der Maestro alle schönen Seiten des Lebens, insbesondere die Küche seiner Heimat, sehr zu schätzen, und war selbst ein leidenschaftlicher Koch. Eine gute Küche bedarf guter Produkte, das wussten auch bereits Verdi und seine Frau Giuseppina Strepponi. Als im November 1861 Verdis erste Reise nach St. Petersburg bevorstand (für die ursprünglich geplante Erstaufführung von La forza del destino), schrieb Giuseppina Strepponi an Corticelli, den Privatsekretär der Schauspielerin Adelaide Ristori, die gerade in der russischen Hauptstadt verpflichtet war: „Wir brauchen richtig perfekte Tagliatelle und Maccheroni, um Verdi bei guter Laune zu behalten bei der Kälte und den Pelzen (...) Wenn die Ristori glaubt, ihn mit Tagliatelle überwältigen zu können, wird Verdi sie wohl mit Risotto in den Schatten stellen – den zuzubereiten versteht er wirklich göttlich.“ Neben dem Kauf von Reis, Maccheroni, Käse und Würsten gab sie Corticelli auch Verdis Bestellung weiter, für die drei Monate in St. Petersburg 100 kleine Flaschen Bordeaux als Begleitung zum Essen, 20 Flaschen guten Bordeaux und 20 Flaschen Champagner zu besorgen. Für das leibliche Wohl war also auch in der Fremde vorgesorgt.

Wie gelang es nun Verdi, seinen göttlichen Risotto zuzubereiten? Es zirkulieren viele Rezepte für Risotto a la Giuseppe Verdi– das bekannteste dürfte wohl das von Henri-Paul Pelaprat (1869-1952) sein, dem französischen Koch und Verfasser des Klassikers L’Art Culinaire Moderne (dt. Der Grosse Pelaprat, Lausanne 1969), der den klassischen Risotto mit Rahm, Tomaten und Spargelspitzen verfeinert. Sicherlich ein schmackhaftes Gericht – aber weit davon entfernt, das originale Verdi-Risotto wiederzugeben. Doch zum Glück wurde das Rezept des Meisters für die Nachwelt dokumentiert. In einem Brief an Camille du Locle von der Pariser Oper, der um das Rezept gebeten hat, schreibt Giuseppina Strepponi im Auftrag Verdis:

„Gebt in eine Pfanne zwei Unzen frische Butter; zwei Unzen Rinder- oder Kalbsmark, mit ein wenig fein geschnittener Zwiebel. Wenn diese etwas angeröstet ist, gebt sechzehn Unzen Piemonteser Reis in die Pfanne: Lässt diesen bei häufigem Umrühren mit einem Holzlöffel auf hohem Feuer gehen, bis der Reis geröstet und eine schöne goldene Farbe angenommen hat. Nehmt kochende Brühe, aus gutem Fleisch, und gebt zwei bis drei Schöpflöffel davon zum Reis. Wenn die Hitze ihn nach und nach austrocknet, jeweils etwas Brühe nachgiessen, bis der Reis perfekt gegart ist. Denkt aber daran, zur Hälfte der Kochzeit (also etwa eine Viertelstunde, nachdem der Reis in die Pfanne gegeben worden ist), ein halbes Glas stillen, süssen Weisswein zuzugeben. Gebt auch, eine nach der andern, drei Handvoll geriebenen Parmesankäse dazu. Wenn der Reis fast fertig ist, nehmt eine Prise Saffran, den ihr in einem Löffel Brühe löst, gebt ihn dazu, die Pfanne vom Herd und den Risotto in eine Suppenschüssel. Wenn ihr Trüffel habt, schneidet diesen recht fein und gebt ihn über den Risotto wie Käse, sonst gebt nur Käse darüber. Abdecken und sofort servieren.“ (siehe Corrado Mingardi, La Cucina di Verdi, Milano 2013, p. 25)

Auch wenn man heute in der Mailänder Oper kaum mehr „quanto risotto!“ hört, so wird sich der Opernfreund dank Giuseppina Strepponi doch jederzeit an einem schmackhaften, göttlichen und also echt Verdianischen Risotto erfreuen können – oder an der Variante von Ambrogio Maestri, dem grossen Falstaff unserer Tage:


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